Innerörtliche Geschwindigkeitsbeschränkung wegen Unfällen: Von A wie Analyse bis Z wie Zielkenngröße
Wo sich innerorts Unfälle häufen, können Geschwindigkeitsbeschränkungen in Betracht kommen. Doch wie wird entschieden, ob und wo eine solche Beschränkung notwendig ist? Der Prozess reicht von der gründlichen Analyse der Unfalldaten bis hin zur Festlegung und Überprüfung der Zielkenngrößen der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeiten.
Innerörtliche Unfallhäufungen werden durch Analyse von Einjahreskarten und Dreijahreskarten ermittelt. Bei Verdacht auf überhöhte Geschwindigkeit als mitwirkender Faktor werden verdeckte sanktionsfreie Geschwindigkeitsmessungen durchgeführt, um anhand des Geschwindigkeitskennwertes V50 eine angemessene zulässige Höchstgeschwindigkeit festzulegen.
In diesem Artikel werfen wir einen detaillierten Blick auf die Schritte und Maßnahmen, die vollzogen werden müssen, um innerhalb geschlossener Ortschaften eine Geschwindigkeitsbeschränkung aufgrund der Unfallsituation einzurichten – darunter:
- Erkennen von Unfallhäufungsstellen und Unfallhäufungslinien
- Festlegung des Messortes
- Auswertung der Geschwindigkeitsmessungen
- Festlegung geeigneter Maßnahmen
- Bewertung der Wirkung der veränderten zulässigen Höchstgeschwindigkeit
- Und vieles mehr …
Los geht’s!
Typen von Unfallhäufungen
Das Merkblatt zur Örtlichen Unfalluntersuchung in Unfallkommissionen (M Uko) unterscheidet zwischen Unfallhäufungsstellen (UHS) und Unfallhäufungslinien (UHL) (Kapitel 3.2 M Uko).
Unfallhäufungsstellen sind punktuelle Unfallhäufungen. Sie betreffen Knotenpunkte oder kurze Streckenabschnitt, wie zum Beispiel Kurven, auf denen die Grenzwerte erreicht oder überschritten werden (Kapitel 3.2 M Uko).
Unfallhäufungslinien sind linienhafte Unfallhäufungen. Sie beziehen sich auf längere Streckenabschnitte, auf denen die Grenzwerte erreicht oder überschritten werden (Kapitel 3.2 M Uko).
Ortslage
Darüber hinaus wird sowohl bei Unfallhäufungsstellen als auch bei Unfallhäufungslinien zwischen Innerortsstraßen, Landstraßen und Autobahnen unterschieden.
Mit anderen Worten: Wann die Kriterien für eine Unfallhäufungsstelle oder eine Unfallhäufungslinie gegeben sind hängt auch davon ab, wo die Unfälle aufgenommen wurden.
Zeitraum
Je nachdem, wo sich die Unfälle ereignen wird die örtliche Unfalluntersuchung anhand einer Einjahreskarte (1-JK) oder Dreijahreskarte (3-JK) durchgeführt (Kapitel 2.6 M Uko).
Die Einjahreskarte (1-JK) umfasst 12 Monate (ein Kalenderjahr) und beinhaltet alle der Polizei bekannten Unfälle. Sie dient insbesondere dem Erkennen gleichartiger Unfälle (Kapitel 2.6 M Uko).
Im Gegensatz dazu gilt die Dreijahreskarte (3-JK) für einen Zeitraum von 36 Monaten (drei Kalenderjahre). Sie enthält alle der Polizei bekannten Unfälle mit Personenschaden bzw. Unfälle mit schwerem Personenschaden (Kapitel 2.6 M Uko).
Unfallhäufung innerorts
Zu Innerortsstraßen nach M Uko zählen alle Straßen innerhalb der durch das Verkehrszeichen “Ortstafel” (Zeichen 310) gekennzeichneten Gebiete (Kapitel 3.3.1 M Uko).
Innerörtliche Unfallhäufungen werden nach Analyse der Einjahreskarte (1-JK) und der Dreijahreskarte (3-JK) festgelegt.
Unfallhäufungsstelle innerorts
Nach den Vorgaben für Einjahreskarten (1-JK) der M Uko liegt eine Unfallhäufungsstelle auf Innerortsstraßen vor, wenn sich in 12 Monaten 5 Unfälle gleichen Unfalltyps oder mehr ereignet haben (Kapitel 3.3.1 M Uko).
Nach der Dreijahreskarte (3-JK) liegt eine Unfallhäufungsstelle auf Innerortsstraßen vor, wenn sich in 36 Monaten 5 Unfälle mit Personenschaden oder mehr ereignen (Kapitel 3.3.1 M Uko).
Wichtig dabei: Bei Prüfung der Dreijahreskarte (3-JK) werden die verschiedenen Unfalltypen nicht gesondert berücksichtigt (Kapitel 3.3.1 M Uko).
Unfallhäufungslinie innerorts
Unfallhäufungslinien auf Innerortsstraßen werden nach der M Uko nur auf “Überschreiten-Unfälle” zurückgeführt (Kapitel 3.4.1 M Uko).
“Überschreiten-Unfälle” sind Unfälle, bei denen der Unfall durch einen Konflikt zwischen einem die Fahrbahn überschreitenden Fußgänger und einem Fahrzeug ausgelöst wurde (Anhang 9 M Uko).
Ferner werden Unfallhäufungslinien auf Innerortsstraßen nur anhand der Dreijahreskarte (3-JK) ermittelt (Kapitel 3.4.1 M Uko).
Nach der Dreijahreskarte (3-JK) liegt eine Unfallhäufungslinie auf Innerortsstraßen wegen “Überschreiten-Unfällen” vor, wenn sich in 36 Monaten 3 Unfälle mit Personenschaden oder mehr ereignen (Kapitel 3.4.1 M Uko).
Damit zwei “Überschreiten-Unfälle” derselben Unfallhäufungslinie entlang einer Innerortsstraße zugeordnet werden, sollte der Abstand zwischen den benachbarten “Überschreiten-Unfällen” maximal 300 m betragen (Kapitel 3.4.1 M Uko; Kapitel 3.4.1 Tabelle 6 M Uko).
Prüfung überhöhter Geschwindigkeit als Faktor
Bei Unfallhäufungen aufgrund von Fahrunfällen oder Unfällen mit schweren Folgen liegt ein Verdacht auf überhöhte Geschwindigkeit als mitwirkender Faktor nahe (Anhang 10 M Uko).
Um diesen Verdacht zu überprüfen können verdeckte sanktionsfreie Geschwindigkeitsmessungen eingesetzt werden (Anhang 10 M Uko).
Diese verdeckten sanktionsfreien Geschwindigkeitsmessungen dienen nicht nur der Überprüfung des Geschwindigkeitsniveaus, sondern auch zur Erhebung der für diesen Straßenbereich angemessenen zulässigen Höchstgeschwindigkeit (Anhang 10 M Uko).
Geschwindigkeitsmessungen durch die Polizei sind zur Überprüfung des Geschwindigkeitsniveaus sowie der Erhebung der für diesen Straßenbereich angemessenen zulässigen Höchstgeschwindigkeit in der Regel nicht geeignet, da vor diesen Kontrollen häufig gewarnt wird und diese daher rechtzeitig erkannt werden (Anhang 10 M Uko).
Verdeckte sanktionsfreie Geschwindigkeitsmessungen werden durch mobile Verkehrsdatenerfassungsgeräte durchgeführt (Anhang 10 M Uko).
Durch mobile Verkehrsdatenerfassungsgeräte ist es möglich das tatsächliche Geschwindigkeitsniveau an einem bestimmten Punkt zu ermitteln.
Zu den mobilen Verkehrsdatenerfassungsgeräten zählen zum Beispiel Seitenradarmessgeräte.
Seitenradarmessgeräte können das tatsächliche Geschwindigkeitsniveau verschiedener Fahrzeugtypen anhand der Länge der Fahrzeuge ermitteln.
Das tatsächliche Geschwindigkeitsniveau wird auch tatsächliches Geschwindigkeitsverhalten genannt. Es wird üblicherweise mit dem Geschwindigkeitskennwert V85 ermittelt.
Mit dem Geschwindigkeitskennwert V85 ist gemeint, dass 85 % der Kraftfahrer die betreffende Geschwindigkeit nicht überschreiten (Anhang 10 M Uko).
Bei verdeckten sanktionsfreien Geschwindigkeitsmessungen sollte auf folgende Punkte geachtet werden: Messort, Fahrtrichtung und Durchführung.
Messort
Der Messort sollte möglichst im Bereich oder so nahe wie möglich an der Unfallhäufung liegen (Anhang 10 M Uko).
Fahrtrichtung
Für jede Fahrtrichtung sollten die Geschwindigkeiten getrennt erhoben werden (Anhang 10 M Uko).
Die Geschwindigkeiten mehrerer Fahrstreifen in eine Richtung sind in der Regel zusammenzufassen (Anhang 10 M Uko).
Durchführung
In Bezug auf die Durchführung der Geschwindigkeitsmessungen sollte darauf geachtet werden, dass diese in verkehrsschwachen Zeiten erfolgen. Dies liegt daran, dass Verkehrsteilnehmer in verkehrsarmen Zeiten ihre Geschwindigkeiten frei wählen können (Anhang 10 M Uko).
Geschwindigkeitsmessungen im Bereich von Lichtzeichenanlagen sind in der Regel mit großen Fehlern behaftet, da das Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer in direkter Abhängigkeit des Signalisierungszustands der Lichtzeichenanlagen steht und dadurch stark schwankt (Anhang 10 M Uko).
Auswertung der Geschwindigkeitsmessungen
Bei der Prüfung der Geschwindigkeitsmessungen ist die zur Zeit der Geschwindigkeitsmessung zulässige Höchstgeschwindigkeit, der Geschwindigkeitskennwert V50 sowie der Geschwindigkeitskennwert V85 relevant (Anhang 10 Tabelle 13 M Uko).
Der Geschwindigkeitskennwert V50 stellt die Geschwindigkeit dar, die von der Hälfte der Kraftfahrer überschritten wird (Anhang 10 M Uko).
Im Umkehrschluss: Die Geschwindigkeit des Geschwindigkeitskennwertes V50 sagt aus, dass die Hälfte der Kraftfahrer diese Geschwindigkeit einhalten.
Geeignete Maßnahmen
Kommt eine Straßenverkehrsbehörde bei der Auswertung der Geschwindigkeitsmessungen zum Ergebnis, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit von der Hälfte oder mehr als der Hälfte der Kraftfahrer überschritten wird, so sind zunächst straßenbauliche Maßnahmen zu prüfen (Anhang 10 M Uko).
Man spricht von Einheit von Bau und Betrieb (Anhang 10 M Uko).
Daneben können ortsfeste Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen oder mobile Geschwindigkeitskontrollen geprüft werden (Anhang 10 M Uko).
Anhand des Geschwindigkeitskennwertes V50 ist an festgestellten Unfallhäufungsstellen und Unfallhäufungslinien die angemessene zulässige Höchstgeschwindigkeit festzulegen (Anhang 10 M Uko).
Zulässige Höchstgeschwindigkeiten unter 30 km/h sollten nicht beschildert werden.
Anhang 10 M Uko
Auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) sieht vor, dass Geschwindigkeitsbeschränkungen aus Sicherheitsgründen nur auf bestehenden Straßen angeordnet werden sollen, wenn die geltende Höchstgeschwindigkeit von der Mehrheit der Kraftfahrer eingehalten wird (VwV-StVO zu Zeichen 274).
Die VwV-StVO erläutert nicht, was mit der Mehrheit der Kraftfahrer gemeint ist.
Die M Uko beschreibt die Mehrheit der Kraftfahrer als 50 % der Kraftfahrer oder mehr.
Dem folgend lässt sich die Mehrheit der Kraftfahrer mit dem Geschwindigkeitskennwert V50 ermitteln.
Wenn die geltende Höchstgeschwindigkeit von der Mehrheit der Kraftfahrer nicht eingehalten wird, muss die geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit durchgesetzt werden (VwV-StVO zu Zeichen 274).
Wirkung einer veränderten zulässigen Höchstgeschwindigkeit
Wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschränkt, da eine überhöhte Geschwindigkeit als mitwirkender Faktor erkannt wurde, ist es wichtig, im Nachgang die Wirkung der veränderten zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu untersuchen (Anhang 10 M Uko).
Nach der Festlegung einer neuen zulässigen Höchstgeschwindigkeit sollten die Auswirkungen auf das Geschwindigkeitsverhalten mit Nachher-Messungen etwa 4 Wochen nach Aufstellung der Verkehrszeichen “Zulässige Höchstgeschwindigkeit” (Zeichen 274) geprüft werden (Anhang 10 M Uko).
Die Nachher-Messungen sollten am selben Messort der Vorher-Messungen, mit derselben Messmethode und zu etwa denselben Messzeiten erfolgen (Anhang 10 M Uko).
Der Geschwindigkeitskennwert V85 sagt aus, dass 85 % der Kraftfahrer die betreffende Geschwindigkeit unterschreiten. Mit anderen Worten: 15 % der Kraftfahrer fahren schneller als diese Geschwindigkeit (Anhang 10 M Uko).
Nach Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung ist das veränderte Geschwindigkeitsverhalten mittels des Geschwindigkeitskennwertes V85 zu bewerten (Anhang 10 M Uko).
Die V85-Geschwindigkeit ist die sicherheitsrelevante Zielkenngröße zur Entschärfung geschwindigkeitsbedingter Unfälle.
Anhang 10 M Uko
Beispiel
Entlang einer Bundesstraße innerhalb einer geschlossenen Ortschaft wurde eine Unfallhäufung in einer Kurve erkannt.
Die Unfalluntersuchung ergab 6 Unfälle des Unfalltyps “Fahrunfall” wegen Abkommen von der Fahrbahn innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten. Es lag ein Verdacht auf überhöhte Geschwindigkeit als mitwirkender Faktor vor.
Die zulässige Höchstgeschwindigkeit in der Kurve betrug 50 km/h.
Nach verdeckten sanktionsfreien Geschwindigkeitsmessungen stellte sich heraus, dass sich der Geschwindigkeitskennwert V50 bei 28 km/h befand.
Der Geschwindigkeitskennwert V50 lag deutlich unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h.
Aus diesem Grund wurde der Geschwindigkeitskennwert V50 zur Festlegung einer neuen zulässigen Höchstgeschwindigkeit herangezogen.
Der Geschwindigkeitskennwert V50 von 28 km/h wurde auf 30 km/h aufgerundet.
Die neue zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt nunmehr 30 km/h.
Geschwindigkeitsmessungen belegen für den Nachher-Zeitraum einen Geschwindigkeitskennwert V50 von 26 km/h und einen Geschwindigkeitskennwert V85 von 31 km/h.
Das tatsächliche Geschwindigkeitsverhalten – Geschwindigkeitskennwert V85 – wurde nach der Maßnahme nachweislich auf einen für die Örtlichkeit angemessenen Wert reguliert.
Fazit
Unfallhäufungsstellen sind punktuelle Unfallhäufungen, während Unfallhäufungslinien längere Streckenabschnitte betreffen, auf denen die Grenzwerte erreicht oder überschritten werden.
Für die Ermittlung und Analyse von Unfallhäufungen ist sowohl die Ortslage als auch der Zeitraum der Unfälle von Bedeutung. Unfälle werden in Einjahreskarten (1-JK) und Dreijahreskarten (3-JK) dokumentiert.
Unfallhäufungsstellen innerorts werden identifiziert, wenn in einem Jahr mindestens fünf Unfälle gleichen Typs oder in drei Jahren mindestens fünf Unfälle mit Personenschaden auftreten. Unfallhäufungslinien innerorts beziehen sich nur auf “Überschreiten-Unfälle”, bei denen sich in drei Jahren mindestens drei Unfälle mit Personenschaden ereignet haben.
Die Maßnahmen zur Regulierung der Geschwindigkeit umfassen straßenbauliche Maßnahmen, ortsfeste Geschwindigkeitsüberwachungsanlagen oder mobile Kontrollen. Nach der Einführung einer neuen Geschwindigkeitsbeschränkung wird die Wirkung durch Nachher-Messungen überprüft. Der Geschwindigkeitskennwert V85, bei dem 85 % der Fahrer die Geschwindigkeit nicht überschreiten, ist hierbei eine wichtige Kenngröße zur Bewertung der Maßnahmen.
Insgesamt zeigt das M Uko, dass eine systematische und datenbasierte Vorgehensweise unerlässlich ist, um Unfallhäufungen zu identifizieren und durch geeignete Maßnahmen die Verkehrssicherheit zu erhöhen.
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